Offene wissenschaftliche Tagung über qualitative Methoden in der Psychologie (Schwerpunkt: 'Gruppe als Erkenntnismittel'), 1. und 2. 10.1999 am Institut für Psychologie der Universität Bremen
Inhalt:
Gerhard Kleining | Übersicht |
Thomas Burkart | Methodologie der dialogischen Introspektion in der Gruppe |
Harald Witt | Systematik von Introspektionsversuchen: Phasen der Introspektion |
Peter M. Mayer | Methode der dialogischen gruppengestützten Introspektion |
Thomas Burkart & Monika Wilhelm | Introspektion bei der Rezeption eines Kurzfilms |
Dialogische Introspektion in der Gruppe ist ein an der Hamburger Universität von Psychologen und Soziologen in der "Forschungswerkstatt Introspektion" entwickeltes Verfahren, das einige gravierende Probleme der traditionellen individuellen Introspektion überwindet. Dies geschieht durch die systematische Anwendung der entdekenden (heuristischen) Methodologie. Die Besonderheit ist die Verwendung der Gruppe zur Datengewinnung. Die Methode stellt die Intersubjektivität des Verfahrens her, fördert seine Verwissenschaftlichung und macht die klassische Introspektion in methodologisch korrigierter Form wieder als Forschungsverfahren verwendbar. Introspektion ist der einzige unmittelbare Zugang zum Erleben; es steht außer Zweifel, dass eine kontrolliert eingesetzte Introspektion wertvolle Erkenntnisse liefern kann.
Die Kritik sieht den "Subjektivismus" der klassischen Introspektion - von Brentano und Wundt bis zu Titchener und der Würzburger Denkpsychologie - darin, dass sich die durch Introspektion gewonnenen Daten oder Erkenntnisse der Überprüfung durch andere Personen entziehen. Zwar haben Karl Marbe und Narziss Ach versucht, diesen früh gesehenen Einwand zu entkräften; Marbe (1901) durch Trennung von Beobachter und Forscher sowie sofortiges Berichten nach dem Erlebnis und Ach (1905) durch Erweiterung des apparativen Aufwandes im Labor und durch eine sich an die Introspektion anschließende intensive Befragung der Versuchsperson durch den Versuchsleiter. Beides konnte nicht verhindern, dass die introspektive Methode den scharfen Attacken des Behaviorismus zum Opfer fiel und in der Folgezeit als akzeptables und lehrbares Verfahren verbannt wurde. Natürlich blieb das mehr oder weniger systematische Nachdenken und die Erinnerung an Erlebtes weiterhin eine allseits verwandte Technik auch der akademisch Forschenden - man kann eben nicht forschen (oder sollte leben), ohne seinen Geist und seine Erfahrung zu gebrauchen. Die Methode selbst war jetzt aber in den außer- oder vorwissenschaftlichen Bereich abgedrängt, von der akademischen Akzeptanz ausgeschlossen und der durch Erfahrung und Reflexion ermöglichten Weiterentwicklung enthoben. Die Hamburger Forschenden bemühen sich, durch kritische Empirie diese "terra incognita" der Methodenlandschaft zu erkunden und die Methode durch Veränderung des Verfahrens, vor allem durch die Nutzung der kommunikativen Möglichkeiten der aktuellen Gruppe, der akademischen Forschung zurück zu gewinnen.
Gruppengestützte dialogische Introspektion korrigiert vor allem drei Schwächen der individuellen Introspektion: (1) die Einseitigkeit des Erlebens und/oder des Berichtens über Erlebtes, (2) die ungelöste Frage nach einer optimalen Dokumentation der Erlebnisinhalte und (3) das Problem der Definition des "Erlebens", die Tennung vom Erinnertem oder der Introspektion von Retrospektion, besonders unter dem Vorbehalt, ob es eine Introspektion ohne Retrospektion überhaupt gebe - alles zusammengefasst zum Vorwurf einer wissenschaftsunverträglichen Subjektivität.
Kurz gesagt ist das Neue an unserem Vorgehen, dass wir Introspektion von der individuellen auf die Guppenebene heben und wieder stärker Alltagstechniken einbringen. Legitimiert wird das durch die heuristischen Methodologie, die Offenheit, Variabilität und Dialogik fordert um Einengungen und Verfestigungen zu überwinden, wie sie bei den klassischen Introspektionsversuchen durch die apparative Ausstattung und die formalisierten Regelungen der Wundtschen Labors geschaffen worden waren. Den Schritt zur Offenheit bzw. Natürlichkeit ist Karl Bühler bei seinen Denkversuchen in Würzburg schon gegangen, indem er komplexe Aufgaben stellte und Erlebtes einfach beschreiben ließ (Bühler 1907). In unserem Falle erweitern die Berichte anderer Teilnehmer den eigenen Horizont während vielgestaltige, dem Einzelfall jeweils angemessene Techniken zur Dokumentation verwendet werden. Unsere Methode löst sich sowohl von der akademischen individuellen Introspektion durch Öffnung der Rahmenbedingungen als auch von der Alltagsintrospektion, dem situationsabhängigen Erleben und Nachdenken. Dessen Reflexion hat den Nachteil der "zirkulären Subjektivität", weil Erinnerung an Erleben im Verlauf des Erinnerns sich zunehmend auf sich selbst bezieht und sich dabei verengt, wie unsere Langzeitstudien zeigen. Die Korrektur durch unser Verfahren wird erreicht durch die Technik der dialogischen Datengewinnung. "Dialogisch" bezieht sich dabei auf die bessere Erschließung der eigenen Erlebensinhalte und -formen in der Gruppe, nicht etwa auf eine Gruppendiskussion zur Einordnung und Ausdeutung der im Bewußtsein schon verarbeiteten und verfestigten Inhalte. Die Einbeziehung der Gruppe in die Datengewinnung verändert bei der Analyse, die das Gemeinsame im Verschiedenen herausfindet, das Subjektive zum Intersubjektiven und wirkt damit dem Hauptvorwurf der Subjektivierung entgegen.
Zu den genannten Problembereichen der individuellen Introspektion: (1) Unser Verfahren akzeptiert die Einseitigkeit des Erlebens durch die bewusste oder vorbewusste Selektion der Erlebnisinhalte des Individuums und seine Tendenz zur einseitigen, "subjektiven" Darstellung. Indem aber ein Gruppenmitglied von anderen hört, wie diese das gleichen Ereignis oder die gleiche Befindlichkeit erlebt haben, wird es angeregt, das eigene Erleben und die eigene Mitteilung darüber zu prüfen, gegebenenfalls zu ergänzen. Die Informationen durch andere frischt das Erlebte auf und verlebendigt es. Es soll zu erneuter Mitteilung anregen, wieder zum Nutzen der anderen TeilnehmerInnen. Dies geschieht als Prozess und in der Abfolge, also "dialogisch". Hier stellt sich die Frage, ob die Gruppe nicht nur Vergessenes und Verdrängtes zu Tage fördert, sondern auch Mitteilungen darüber verhindert. Nach unserer Erfahrung spielt die Repression von Erlebnisinhalten in der Gruppe, die natürlich auch vorkommt, in weitgehend demokratisch organisierten Gruppen eine geringere Rolle als ursprünglich befürchtet. Der Nutzen überwiegt die Einschränkungen in der Berichterstattung bei weitem. Entsprechende Motivation der TeilnehmerInnen und Konsens über die Verfahrensregeln fördern die Offenheit. (2) Wir suchen nicht nach der optimalen Form der Dokumentation sondern verwenden alle jeweils geeignet erscheinenden Techniken. Flüchtige Eindrücke können z.B. mit Stichworten während eines Ereignisses erfasst werden, die helfen, die Erlebnisse später zu rekonstruieren. Notizen kurz nach dem Ereignis oder spätere ausführlichere mündliche und schriftlichen Darstellungen sind andere Formen der Beschreibung von Erlebnisinhalten. Vielgestaltigkeit der Dokumentation von Erlebtem ist der heuristischen Absicht förderlich. (3) Aktuelle Erlebnisse werden so beschrieben, wie erlebt. Wir versuchen nicht, das vermeintlich Unmittelbare vom Vermittelten zu trennen, das durch die Erinnerung schon bearbeitet ist. Erlebnis- und Erinnerungs-Prozesse sollen erfasst und der Analyse zugänglich gemacht werden. Es ist sinnvoll, Erlebnisse im Zeitverlauf und auch in der Rückschau zu protokollieren.
Im ganzen Verfahren nehmen wir die Person sowohl als Individuum mit geschützter privater Sphäre als auch als soziales Mitglied einer Gemeinschaft, das mit anderen Menschen in Kommunikation treten und dadurch von ihnen Neues auch über sich selbst erfahren kann. Dialogische Introspektion in der Gruppe ist in diesem Sinne eine subjektbezogene Methode; alle Teilnehmende sind Forschende, nicht "Versuchsperson", wie in der älteren Psychologie.
Das hier vorgestellte Verfahren verbessert die Datenerhebung bei Introspektion. Es zielt auf eine möglichst starke Variation der Daten, die durch Nachbesserung und Aufzeichnen der Verläufe differenzierter und reicher werden als bei individueller Introspektion und zu einem bestimmten Erlebnis sehr komplexe Datensätze liefert. Dagegen bleibt die Art der Analyse der Daten - immer auf Gemeinsamkeiten - die gleiche wie bei anderen heuristischen Methoden.
Neben den offensichtlichen Vorzügen der dialogischen Methode, angewandt auf Introspektion, existieren natürlich auch Nachteile, die vor allem in der beschränkten Repräsentanz der Gruppenmitglieder für bestimmte gesellschaftliche Gruppen und einem Zurückhalten zu persönlicher Erlebnisinhalte in der Gruppe liegen. Die Einschränkung der Reichweite kann durch Variation der Gruppenzusammensetzung in einem gewissen Maße korrigiert werden. Zu Persönliches kann privat bleiben, soll aber für die eigene Nutzung dokumentiert werden. Unsere Forschungen wurden in erkennntnisgewinnender Absicht geführt und haben keinen therapeutischen Charakter - obgleich dieser sich doch gelegentlich einstellt, wenn Gruppenteilnehmer besondere Erlebnisinhalte einbringen oder an solchen anderer Mitteilender partizipieren. An die genannten Grenzen sind wir selten gestoßen, in diesem Fall sollte man gruppentherapeutische Erfahrungen zu Rate ziehen. Insgesamt soll man sich bewußt bleiben, dass alle Einzelverfahren ihre jeweils starken Seiten und ihre Begrenzungen haben, weswegen die heuristische Methodologie auch eine Variation der Verfahren verlangt, sofern vermutet wird, dass sie Einseitigkeiten fördern. Im allgemeinen ist es sinnvoll, dialogische Introspektion in der Gruppe als eines von mehreren Verfahren zur Erforschung eines bestimmten Themas zu verwenden.
Die Hamburger Forschungswerkstatt Introspektion hat 1998 eine Konferenz über Introspektion als Forschungsmethode veranstaltet, die Beträge sind im Druck erschienen (Themenschwerpunkt Introspektion, 1999). Es gibt auch eine On-line zugängliche Beschreibung der Methode (Kleining & Witt 2000). Die hier vorgelegten Ausarbeitungen beschreiben verschiedene Aspekte der Methode, sie sind überarbeitete Fassungen von Vorträgen auf einer Tagung der Methodengruppe der Neuen Gesellschaft für Psychologie an der Universität Bremen im Oktober 1999.
Die Basis der dialogischen Introspektion ist eine Alltagstechnik. Menschen beobachten manchmal ihr Erleben, setzen sich damit schriftlich auseinander, indem sie z. B. Tagebuch schreiben. Sie teilen anderen von ihrer inneren Welt mit, von ähnlichen oder verschiedenen inneren Erfahrungen. Die Methode der dialogischen Introspektion wurde in Abgrenzung und Weiterentwicklung zur Alltagsintrospektion entwickelt, die zumeist selektiv und unsystematisch eingesetzt wird, oft wertend und einseitig. Methodologische Kennzeichen der dialogischen Introspektion sind eine heuristische Basismethodologie, die systematische und variierte Dokumentation des Erlebens, die Trennung von Selbstbeobachtung und Analyse, eine Verschränkung von Selbst- und Fremddialog und die Förderung günstiger Gruppenbedingungen.
Im Unterschied zur spontanen und unsystematischen Alltagsintrospektion basiert die dialogische Introspektion auf einem systematischen, regelbasierten Vorgehen. Ihre Basismethodologie ist heuristisch (vgl. Kleining 1994, 1995). Kennzeichen sind
Um wissenschaftlich erforscht werden zu können, müssen die zunächst nur innerlich und flüchtig vorhandenen Selbstbeobachtungen veräußerlicht und dokumentiert werden. Für diese Transformation können folgende bereits in der Alltagsintrospektion vorhandene Dokumentationsformen genutzt werden:
Außerdem kann mit Tonbandaufnahmen des Introspektionsberichts gearbeitet werden, die anschließend als Voraussetzung für die Analyse transkribiert wurden. Eine Dokumentation, die Inneres in Äußeres transformiert, ist wegen der Flüchtigkeit, Vielfalt und nicht selten Widersprüchlichkeit der inneren Erfahrung eine zumeist unvollständige und nicht selten perspektivische, einseitige Darstellung des beobachteten Erlebens. Deshalb wird die Dokumentationsform in der dialogischen Introspektion anders als im Alltag variiert.
Die technische Ausgestaltung dieser variierten Dokumentation sollte dem jeweiligen introspektiven Gegenstand angepasst sein, ihn beispielsweise nicht stören oder gar zum Verschwinden bringen. So wurde beispielsweise bei längeren Rezeptionsexperimenten während der Rezeption nur mit stichpunktartigen Introspektionsnotizen gearbeitet, die als Gedächtnisstütze eines im Anschluss an die Rezeption erstellten ausführlichen Protokolls des Rezeptionsserlebens genutzt werden konnten.
In der Alltagsintrospektion ist oft eine Vermengung von Selbstbeobachtung, Bewertung und Deutung zu finden. Um dies zu vermeiden, werden in der dialogischen Introspektion Selbstbeobachtung und Analyse strikt getrennt, wobei die Analyse immer mit verschrifteten Selbstbeobachtungen erfolgt. Die oftmals zeitaufwendige Analyse wird jedoch nicht in der Gruppe, sondern individuell ausgeführt, um die Gefahr von Gruppenkonformität und vorschnellen, durch Zeitdruck beeinflussten Analysen auszuschließen.
In der dialogischen Introspektion wird eine Verschränkung von Einzel- und Gruppenarbeit hergestellt. Einerseits finden sich Selbstdialoge, in denen die Teilnehmer mit ihrem beobachteten Erleben und dem Versuch beschäftigt sind, es angemessen zu dokumentieren. Anderseits gibt es Fremddialoge, in denen der Einzelne das beobachtete Erleben der Gruppe mitteilt.
Diese Verschränkung erzeugt vielfältige Kontraste zwischen dem ursprünglichen Erleben und seinen Dokumentationen:
Diese Verschränkung führt zu vielfältigen Variationen. Neben der Variation der Selbstbeobachtenden wird eine Variation des Zeitabstands zum Erleben hergestellt, indem z. B. während des Erlebens, kurz danach und nach einiger Zeit Introspektion betrieben wird, womit eine Einheit von Intro- und Retrospektion erzeugt wird. Das Vorgehen erleichtert ferner die Variation der Vergegenständlichung, wenn die Selbstbeobachtungen zunächst stichpunktartig und dann ausführlicher notiert und schließlich der Gruppe mitgeteilt werden. Diese Variation der Dokumentation kann zugleich eine Variation der Sichtweise des Erlebens beinhalten.
Die Methodik der dialogischen Introspektion ermöglicht außerdem eine Variation der Forschungsmethode, da die Teilnehmer während des Experiments auch von außen (z. B. durch den Versuchsleiter) beobachtet werden können. Damit können die gewonnenen introspektiven Daten durch Fremdbeobachtungen ergänzt werden, was wie bei einem Teil unserer Experimente zu wesentlichen Erkenntnissen führen kann.
Um Beeinflussungssprozesse einzuschränken, die ein Risiko der Verwendung von Gruppen als Forschungsinstrument darstellen, und um Offenheit zu erleichtern, müssen in Introspektionsgruppen bestimmte Gruppenmerkmale gefördert werden.
Nicht erwünscht sind Kritik oder abwertende Kommentare, die die Bereitschaft des Einzelnen, offen von seinem Erleben zu berichten, herabsetzen und destruktive gruppendynamische Prozesse in Gang setzen können, was aus therapeutischen Gruppen bekannt ist (vgl. Fiedler 1996, Kap. 8). Stattdessen sollte ein respektvoller, interessierter Umgang mit den Introspektionsberichten der anderen Gruppenmitglieder gefördert werden.
Es sollte ferner Freiheit für den Umfang des Introspektionsberichts bestehen. Jeder Teilnehmer ist frei, das von seinem beobachteten Erleben der Gruppe mitzuteilen, was er möchte, im Extremfall auch gar nichts.
Außerdem sollte die Introspektionsgruppe so wenig wie möglich einen hierarchischen Charakter haben, um eine Beeinflussung der Introspektionsberichte durch Machtverhältnisse zu verhindern. Bei stark hierarchischen Gruppen besteht die Gefahr, dass die Befunde weniger den Gegenstand als die Gruppenstruktur spiegeln. Zur Hierarchieabschwächung trägt bei, dass alle Gruppenmitglieder ohne Unterbrechung oder Nachfragen Raum für ihren Introspektionsbericht haben.
Darüber hinaus wurde in unseren Untersuchungen deutlich, dass ein Leistungscharakter in der Introspektionsgruppe vermieden und außerdem Minderheitenerfahrungen gestärkt werden sollten. Es soll unter den Teilnehmern nicht um die Introspektion des "richtigen" oder "interessantesten" Erlebens rivalisiert werden, das es natürlich gar nicht gibt. Wichtig ist vielmehr ein Gruppenklima, in dem die Forschungspersonen ihr Erleben introspektieren und dann davon berichten können, auch wenn es grundverschieden vom Erleben der anderen in der Gruppe ist.
Dass durch eine Leistungssituation Konformitätsprozesse in Gruppen begünstigt werden können, lassen auch sozialpsychologischen Untersuchungen in der Tradition Sherifs und Aschs erkennen (vgl. Avermaet 1996). In vielen dieser Untersuchungen, z.B. zum autokinetischen Effekt oder zur visuellen Diskrimination, wurde eine Leistungssituation erzeugt, in der es um richtige oder falsche Urteile zu gehen schien - die Länge von Linien im Vergleich zu einer Referenzlinie oder das Ausmaß einer Lichtbewegung eines tatsächlich stationären Lichtpunkts zu beurteilen. Die Folge waren leicht beeinflussbare Einschätzungen.
Zur praktischen Förderung der skizzierten Gruppenbedingungen kann ein Versuchsleiter beitragen, der am Anfang bestimmte Gruppenregeln einführt - wie ein Verbot von Kritik und von Nachfragen während des Introspektionsberichts - und im weiteren Verlauf auf die Einhaltung dieser Regeln achtet. Zur Vermeidung von Leistungscharakter und zur Stärkung von Minderheiten ist es nützlich, wenn der Versuchsleiter zu Beginn darauf hinweist, dass es keine richtigen oder falschen Selbstbeobachtungen gibt und dass gerade auch andersartige Introspektionen wichtig sind.
Die Gruppenverwendung in der dialogischen Introspektion unterscheidet sich grundsätzlich von der Gruppendiskussion (Focus Group) - einer Forschungsmethode, in der Gruppen ebenfalls als Erkenntnismittel eingesetzt werden (vgl. Lamnek 1989, Kap. 4; Kleining 1999, S. 165ff.). Im Unterschied zur Gruppendiskussion sind Diskussionsprozesse und die Stimulation einer Gruppendynamik nicht erwünscht, da es in der dialogischen Introspektion nicht um die Erhebung einer Gruppenmeinung, einer Gruppendynamik oder eines Gruppenerlebens, sondern um das Erfassen von individuellen Introspektionen geht. Die wesentliche Funktion der Gruppe besteht lediglich darin, die individuelle Introspektion zu erleichtern, indem der Einzelne durch die Gruppe dazu angeregt wird, die Vollständigkeit und Richtigkeit seiner eigenen Selbstbeobachtungen zu prüfen.
Gegenüber introspektiven Einpersonenuntersuchungen hat die Ausführung in der Gruppe eine Reihe von Vorteilen.
Sie ermöglicht eine ökonomische Datenerhebung mit intra- und interindividuellen Variationen, da in der Gruppe nicht nur mit mehreren Selbstbeobachtenden gearbeitet wird, sondern auch verschiedene Dokumentationen des Erlebens des einzelnen Teilnehmers entstehen.
Die Gruppendurchführung führt zu einer erweiterten dialogischen Abfolge, bei der nicht nur mit Selbstdialogen, sondern auch mit einer Verschränkung von Selbst- und Fremddialog gearbeitet wird und damit psychische mit sozialen Vorgängen verbunden werden.
Die Vervollständigung und Differenzierung von introspektiven Daten wird vereinfacht, weil in der Gruppensituation ein relativ verbindlicher sozialer dialogischer Rahmen erzeugt wird, der stabiler ist, als in der Einzelsituation, in der das Risiko von Ablenkung und Abbruch viel höher ist.
Mit der Gruppenausführung wird das Erkennen von Intersubjektivität im Forschungsprozess gefördert, da maximal strukturell variierte Daten erhoben werden, die dann auf Gemeinsamkeit analysiert werden. Um den Gültigkeitsbereich der erkannten Strukturen zu ermitteln, kann eine Wiederholung der Untersuchung mit einer anderen Gruppe, die sich in wesentlichen Merkmalen von der Ausgangsgruppe unterscheidet (z.B. andere Schichtzugehörigkeit) durchgeführt werden.
Zusammengefasst wird die Gruppe als ein Mittel zur Verwissenschaftlichung von Introspektion gesehen.
In der Hamburger Forschungswerkstatt wurde eine ganze Reihe von Introspektionsversuchen ausgeführt, die in mancherlei Hinsicht variierten, trotzdem aber einem gewissen Schema folgten, das sich in vier Phasen darstellen läßt:
Das Introspektionsereignis, die Dokumentation, der Einsatz der Gruppe und die Analyse der Introspektionsdaten.
Mit dem Introspektionsereignis ist der eigentliche Anlaß für die Introspektion gemeint, also das Erleben oder die Situation oder Aktion, auf die sich die Introspektion bezieht. Es wird davon ausgegangen, daß im Erleben einer Situation immer auch ein zweiter Prozeß abläuft, der es uns ermöglicht, unser eigenes Erleben zu beobachten, so daß wir bei einer späteren Vergegenwärtigung der Situation auch diese Beobachtungsdaten wieder abrufen können. Diese parallel laufende Beobachtung kann sowohl beiläufig als auch vorsätzlich geschehen, das hängt von den jeweiligen Versuchsbedingungen ab, die auf vielfältige Weise variiert werden können und die im Folgenden erläutert werden sollen.
Der Gegenstand der Introspektion bzw. die Ereignisse, die durch Introspektion erfaßt werden können, erstrecken sich über eine große Bandbreite: Es kann ein Erlebnis, eine Beobachtung, eine Handlung, ein innerer Vorgang (z. B. Gefühle) o.ä. sein. Im Grunde alles, was wir mit unserem inneren Erleben, Denken und Fühlen begleiten und das unserer Selbstbeobachtung zugänglich ist. In der konkreten Umsetzung kann es die Rezeption von Filmen, Texten, Bildern o.ä. sein, es können gemeinsam oder einzeln erlebte Situationen und Aktionen sein (Alltagssituationen, extreme Situationen), es können einzelne Handlungsvollzüge oder langdauernde Handlungssequenzen sein oder es können innere Vorgänge und Erlebnisse sein (komplizierte Entscheidungen, intensive Gefühle).
Der Introspektionsgegenstand kann von mehr oder weniger langer Dauer sein. Am einen Extrem können es Bruchteile von Sekunden sein (z. B. die Selbstbeobachtung beim Sturz auf einem rutschigen Fußboden), am anderen Extrem kann er sich über einen relativ langen Zeitraum erstrecken (z. B. das Durchstehen einer lebensgefährlichen Notsituation).
Die Introspektionssituation kann vorsätzlich und geplant aufgesucht werden (Ansehen eines Kurzfilms), sie kann unerwartet für alle Beteiligten auftreten (Wartezeit in einem liegengebliebenen Zug) oder sie kann manipulativ als Überraschung hergestellt sein (von einem ‚Versuchsleiter' für die ‚Versuchspersonen': z.B. das Weckerexperiment, bei dem in einer Veranstaltung plötzlich ein Wecker läutet).
Bei den vorsätzlich geplanten Introspektionssituationen kann noch unterschieden werden zwischen einem kollektiv bestimmten Rahmenthema (z.B. auf starke Gefühle achten ) und ebenfalls kollektiv festgelegten Konkretisierungen (z. B. nur auf Ärgergefühle achten) oder aber individuell gewählten Konkretisierungen (ein besonders intensiv erlebtes Gefühl herausgreifen).
Der Introspektionsgegenstand kann für die Betroffenen relativ belanglos (z. B. das Ansehen eines harmlosen Kurzfilms) oder ein einschneidendes Ereignis (z. B. Tod eines nahen Angehörigen) sein. Der gleiche Gegenstand, die gleiche Situation kann sich dabei individuell in der Bedeutsamkeit gravierend unterscheiden.
Das soziale Setting, in dem die Introspektion stattfindet, kann in mehrfacher Hinsicht eine Rolle spielen. Schon bei der Vereinbarung einer Introspektionsaufgabe in der Gruppe wirken soziale Rahmenbedingungen. Darüber hinaus kann die Introspektionssituation selber im Kollektiv, d.h. in der Gruppe, erlebt werden (z. B. das gemeinsame Ansehen eines Films oder das gemeinsame Erleben einer Störung (Wecker)). Eine weitere Steigerung der Bedeutsamkeit des sozialen Settings kann die gemeinsame Interaktion (z. B. beim sogenannten Zahlenpoker, bei dem die Teilnehmer nach vorgegebenen Regeln ein ‚virtuelles' Pokerspiel spielen) als Gegenstand einer Introspektion sein. Hier werden nicht nur individuelle Selbstbeobachtungen registriert, sondern auch jeweils die Bezüge zu anderen an der Interaktion beteiligten Gruppenmitgliedern.
Mit der Dokumentation der Introspektion ist die Fixierung bzw. Protokollierung des in der Introspektionssituation Erlebten und an sich selbst Beobachteten gemeint. Dabei muß konstatiert werden, daß hier zwei Vorgänge betroffen sind: zum einen eine mehr oder weniger parallel zum Ereignis verlaufende Introspektion, die uns zum Beobachter unserer Selbst in jeder Situation macht und die eine Voraussetzung bzw. Begleiterscheinung unseres bewußten Lebens und Erlebens ist, auf der anderen Seite eine nachträgliche Protokollierung dieses Erlebens, also eine Retrospektion, die auf der Basis dieser Introspektion erfolgt. Diese beiden Aspekte lassen sich allerdings nicht ganz voneinander trennen, weil auch bei der (nachträglichen) Retrospektion wieder Teile des Erlebens aktualisiert werden und somit in der Phase der Retrospektion auch wieder eine Introspektion ermöglicht wird. Diese Verschränkung ist auch die Voraussetzung für das weiter unten beschriebene Phänomen der "Resonanz".
Der zeitliche Abstand zwischen Introspektionsereignis und der Protokollierung bzw. Dokumentation kann in weiten Grenzen variieren: Die Protokollierung kann während des Introspektionsereignisses, kurz danach oder sehr viel später erfolgen. Während z. B. Marbe (1901) dafür plädierte, die Introspektion möglichst rasch nach dem Ereignis durchzuführen, weil sonst die Erinnerung verblasse, hat Bühler (1907) auch die Erinnerung als Verfahren zugelassen, weil sie das Erlebnis in seine wesentlichen Bestandteile zerlegen könne und von daher besonders aufschlußreich sein kann.
Die Introspektion kann sich auf unterschiedliche Aspekte von inneren Prozessen richten. Sie kann z. B. das Denken, Handeln, Fühlen oder Wollen betreffen. Die Richtung der inneren Wahrnehmung kann durchaus (z. T.) gesteuert werden und ein Schwerpunkt der Betrachtungsrichtung vorher festgelegt bzw. vereinbart werden. Es liegt allerdings im Wesen der Introspektion, daß sie eine gewisse Autonomie hat und u. U. andere als die geplanten Brennpunkte ins Zentrum der Selbstbeobachtung legt oder auch vereinbarte Aspekte vermeidet.
Das Protokollieren kann in einem unterschiedlichen sozialen Setting stattfinden: Es schreibt zwar jeder für sich seine individuellen Beobachtungen auf, aber das kann im privaten Bereich zu Hause geschehen oder in der Forschungswerkstatt bei Anwesenheit der anderen Gruppenmitglieder.
Nach der individuell erfolgten Dokumentation kommt die Gruppe zum Einsatz. Die individuellen Protokolle werden der Gruppe präsentiert und die Gruppe geht nach einem bestimmten Ablaufschema auf die Präsentationen ein. Zwar spielt die Gruppe auch schon in den anderen Phasen eine nicht unbedeutende Rolle (s.u.), aber an dieser Stelle ist ihre Funktion für die hier beschriebenen Versuche besonders wichtig. In dieser Phase geht es um eine Bearbeitung und Vervollständigung der individuellen Notizen im Rahmen und mit Hilfe der Gruppe. Dies ist noch nicht die Auswertung der Protokolle, die in einer späteren Phase auf ganz andere Weise erfolgt.
Durch den Einsatz der Gruppe unterscheiden sich die Versuche der Hamburger Forschungswerkstatt gravierend von den klassischen Introspektionsexperimenten, die alle als Einzelexperimente durchgeführt wurden. Da sich die damaligen Forscher alle gut untereinander kannten, werden sie sicher auch gemeinsam über die Experimente gesprochen haben, aber eben außerhalb der Versuchsanordnung und nicht systematisch. Der Einsatz der Gruppe an dieser Stelle ist auch insofern ungewöhnlich, als ja immer die Befürchtungen der gegenseitigen Beeinflussung bestehen (vgl. Asch, 1956). In dem beschriebenen Vorgehen hat die Gruppe aber genau den gegenteiligen Effekt: durch Beiträge aus der Gruppe wird die individuelle Introspektion angereichert, präzisiert und differenziert, ohne daß die Gefahr der Suggestibilität zu bestehen scheint. Es kann sogar vermutet werden, daß das Ausmaß der ‚Redefinition' der Daten aus der ursprünglichen Selbstbeobachtung, wie sie beim Protokollieren zu erwarten ist, durch die Präsentation in der Gruppe reduziert wird. Hier fehlen aber noch gezielte Untersuchungen.
Der zeitliche Abstand zwischen der (individuellen) Protokollierung und der kollektiven Bearbeitung kann recht kurz sein, z. B. Minuten, wenn das Introspektionsereignis und die Dokumentation schon gemeinsam in der Gruppe geschehen sind und die Präsentation und Erweiterung im unmittelbaren Anschluß geschieht oder aber auch lang, z. B. mehrere Tage, wenn das Introspektionsereignis und die Dokumentation außerhalb der Gruppe stattfanden und die Gruppe erst in der Phase der Präsentation und Erweiterung zum Einsatz kommt.
Die individuellen Notizen können entweder als schriftliches Protokoll oder als mündlicher Bericht - der sich an den Notizen orientiert - präsentiert werden. Beim mündlichen Bericht wird mehr oder weniger abgewichen von den eigenen Aufzeichnungen: sie werden entweder weiter aufgefächert, ergänzt und detailliert oder aber auch reduziert, wenn der Erzählfluß eine andere Richtung nimmt. Es könnte durchaus sehr aufschlußreich sein, die Differenzen zwischen Notizen und mündlichem Bericht in die Auswertung mit einzubeziehen.
In der Regel liefert jedes Gruppenmitglied reihum einen Introspektionsbericht. In dieser Phase enthalten sich normalerweise alle anderen in der Gruppe jeglicher Kommentare. Erst im Anschluß an die Präsentation aller Einzelberichte erfolgen Ergänzungen aus der Gruppe. Auch dies in der Regel wieder reihum, aber auch spontan bei wichtigen Fragen, Ergänzungen oder Differenzierungen. Das Ergebnis dieser Gruppenarbeit sind immer noch individuelle Berichte, die aber z. T. präzisiert wurden (es werden z. B. Details nachgeliefert, die für belanglos gehalten wurden, die zur Abgrenzung gegen andere Beschreibungen hinzugefügt werden müssen oder die überhaupt erst in dieser Phase ins Bewußtsein geraten).
Die Basis der Gruppenergänzung scheint ein Phänomen der Resonanz zu sein, ein Gefühl des Miterlebens oder des Mitgehens mit dem Bericht eines anderen Gruppenmitglieds zu dessen jeweiliger Introspektion. Voraussetzung dafür sind ähnliche Erfahrungen der Gruppenmitglieder, so daß sie sich in die berichtete Situation und das berichtete Erleben einfühlen können. Auf dieser Basis können ähnliche Empfindungen wachgerufen werden, die dann mitgeteilt werden können und die der jeweilig Berichtende prüfen kann auf Übereinstimmung oder Differenz zu seinem eigenen Erleben.
Die Analyse der Protokolle und Aufzeichnungen findet als Einzelleistung statt, nicht als Gruppenleistung. Sie wird allerdings in der Gruppe präsentiert, diskutiert und u. U. modifiziert und ergänzt.
Basis der Analyse war bisher in erster Linie die Dokumentation der Gruppensitzung (Phase 3). Die Präsentationen der Teilnehmer und die anschließenden Kommentare und Ergänzungen in der Gruppe werden auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Die Originalaufzeichnungen der Teilnehmer wurden bisher nicht systematisch benutzt.
Das Vorgehen bei der Analyse stützt sich auf das bei Kleining (1995) beschriebene Verfahren der Analyse auf Gemeinsamkeiten und des Dialoges mit dem Text. Ziel ist es, Aussagen über die innere Verarbeitung der Introspektionssituation bzw. des Introspektionsereignisses aus Phase 1 zu machen, dabei die individuellen Daten miteinander zu vergleichen, über das Individuelle hinauszugehen und zu verallgemeinerbaren Aussagen zu kommen.
Voraussetzung für die Verallgemeinerung ist natürlich eine möglichst große Variationsbreite des Materials. Insofern ist auch hier das Arbeiten in der Gruppe von großem Vorteil, als ja zu einem Introspektionsereignis immer gleich mehrere - z. T. recht unterschiedliche Berichte - vorliegen. Weitere Variationsmöglichkeiten zu den Phasen 1 und 2 sind weiter oben schon berichtet worden, d.h. zu ähnlichen Phänomenen können durch Variationen in den beschriebenen Phasen auch verschiedenartige Versuche angestellt werden, so daß die Reichweite der Ergebnisse erhöht werden kann. Das Ergebnis der Analyse kann wiederum in der Gruppe präsentiert und u. U. auch ergänzt werden oder ein anderer Teilnehmer kann eine unabhängige zweite Analyse machen.
Die Vielzahl der Einsatzmöglichkeiten der Introspektionsmethode, die Variationsbreite der Gegenstände, der Dokumentation und der nachträglichen Bearbeitung stellen eine erhebliche Erweiterung der klassischen Introspektionsuntersuchungen dar. Sie sind damit noch nicht automatisch besser als z. B. die bedeutsamen Versuche von Karl Bühler (1907) über die Psychologie der Denkvorgänge, aber sie stellen eine gegenüber dem klassischen Verfahren erweiterte Systematik des Untersuchungsvorgehens zur Verfügung und lassen es von daher lohnend erscheinen, die Methode der Introspektion wieder verstärkt aufzugreifen.
Der Einsatz der Gruppe erweitert diese Variationsbreite noch zusätzlich. Die Funktion der Gruppe tritt an mindestens vier Stellen in Erscheinung:
Die Analyse der Introspektionsdaten folgt keinem ‚introspektionsspezifischen' Schema, sondern den allgemeinen heuristischen Regeln, wie sie Kleining (1982) als Vorschlag für die Analyse qualitativer Daten allgemein formuliert hat.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten und der Dialog mit dem Text sind die generellen Schritte, die auch bei der Analyse von Introspektionsprotokollen und Dokumentationen der Gruppensituation verallgemeinerbare Ergebnisse erbringen, die über das Vorwissen zum jeweils untersuchten Themenfeld hinausgehen. Insgesamt kann festgehalten werden, daß die bisherigen Erfahrungen sehr ermutigend sind, die Methode der Introspektion wieder aufzugreifen und als ergiebiges und vielfach variierbares Verfahren einzusetzen. Insbesondere all die vielen - von außen nicht oder nur schwer sichtbaren - inneren Prozesse und psychischen Erfahrungen lassen sich mit diesem Verfahren gut erschließen, zumal wenn die Durchführungstechnik systematisch erweitert und die Analyse heuristisch betrieben wird.
Die Methode der dialogischen gruppengestützten Introspektion unterstützt individuelle Introspektionen mit Berichten in der Gruppe. In einer bestimmten Phase einer Untersuchung oder bei speziellen Forschungsfragen soll der individuumsbezogene Datengewinn durch den Einsatz einer Gruppe in seiner Qualität (Genauigkeit, Reliabilität, Validität, Umfang, Tiefe und Differenzierung) verbessert werden. Im folgenden wird der technische Ablauf eines solchen Gruppenexperimentes dargelegt. Es handelt sich hier um Experimente, in denen mehrere Personen gleichzeitig teilnehmen, bei denen aber jede Person für sich dasselbe Ereignis (das experimentelle Ereignis) erlebt. Nach der Präsentation des Forschungsgegenstandes und der Exposition der Gruppenteilnehmer der experimentellen Situation, geschieht die Datenentstehung als mehr oder weniger bewußtes individuelles Erleben im Kopf der teilnehmenden Person, welches von ihr individuell introspektiert, also durch Selbstbeobachtung registriert und möglichst simultan durch Verschriftung oder andere Medien und Ausdrucksformen (wie z.B. Zeichnungen, Tonarbeiten u.a.) protokolliert wird.
In der nachfolgenden Datenpräsentation, in der jeder Teilnehmer seine protokollierten Introspektionsdaten verliest, tritt dann die Gruppe in Aktion, um den individuellen Datengewinn zu unterstützen.
Es handelt sich hierbei nicht um Gruppenexperimente im "traditionell" gruppendynamischen Sinne, in denen eine Gruppe agiert und dann die Beziehungs-Dynamik der Gruppenmitglieder untereinander und die Dynamik der Gruppe als solche untersucht werden soll, sondern um eine experimentelle Anordnung, in der die Gruppe als Instrument der Datengewinnung eingesetzt wird, indem die protokollierten individuellen Introspektionen durch die Introspektionen der anderen Teilnehmer ergänzt, kontrastiert und differenziert werden..
Die Gruppengröße beträgt ca. 5 - 9 Personen. Für ein introspektives Gruppenexperiment eignen sich alle Forschungsgegenstände, die der Introspektion zugänglich sind, also die sich auf menschliche Wahrnehmung, Denken, Fühlen, Erleben, Problemlösen, auf mentale "Gegenstände" und Sachverhalte im allgemeinen beziehen. Bislang sind im Rahmen der Hamburger Forschungswerkstatt insgesamt 14 qualitative Introspektionsexperimente (Kleining & Witt, 2000), zwei über einen plötzlichen Alarm, zwei über Ferseh-Kommunikation, zwei über die Rezeption von künstlerischen Filmen, mehrere über verschiedene Emotionen, augenblicklich erlebte und retrospektiv erinnerte, ein Problemlösungs-Experiment und mehrere über freie Assoziationen ausgeführt worden.
Der Versuchsleiter informiert die Beteiligten über den Forschungsgegenstand und über den Ablauf des Experimentes.
oder alle Beteiligten werden bei Experimenten einem (ein und demselben) Erlebnis ausgesetzt -
Die Expositionsphase:
Der Untersuchungsgegenstand kann ein überraschender Schreckreiz, z.B. durch ein plötzliches Klingeln eines versteckten Weckers, das "klassische" Weckerexperiment, eine Mediendarbietung (Film, Video, Fernsehvorführung), eine experimentelle Problemlösungssituation: das Schlüsselexperiment, sein. Dieser experimentellen Situation wird die Gruppe als Ganzes ausgesetzt. Bei bestimmten experimentellen Settings, z.B. das Schlüsselexperiment als Beispiel einer experimentellen Problemlösungssituation, kann das Experiment in seinem Ablauf mit Tonband oder besser mit Video aufgezeichnet werden.
Die Teilnehmer werden während der experimentellen Darbietung zur Introspektion und zur möglichst zeitnahen Dokumentation ihrer Introspektion aufgefordert, die Instruktion könnte folgendermaßen lauten: "Bitte notieren Sie alles, was Ihnen während der Darbietung und kurz danach durch den Kopf geht, was sie wahrgenommen, gedacht und gefühlt haben".
Die experimentelle Situation kann aber auch aus einer "Hausaufgabe" für alle Teilnehmer bestehen:
Die Teilnehmer werden zum Beispiel dazu aufgefordert, die ersten fünf Minuten ein und derselben Tagesschausendung zu introspektieren (und zu protokollieren). Sie kann aber auch, daraus bestehen, daß die Teilnehmer aufgefordert werden, bestimmte für sie wichtige vergangene Situationen retrospektiv zu introspektieren oder Gefühle, wie zum Beispiel Ärger.
Eigenes Erleben während der individuellen Introspektionsphase soll verschriftet oder möglichst zeitnah zu dem Erlebnis auch anders (z.B. mit Zeichnungen u.a.) dokumentiert werden - das kann individuell, also muß auch nicht in der Gruppe gemacht werden. Das gilt zum Beispiel bei den oben genannten "Hausaufgaben", wie z.B. bei Retrospektionen von Ereignissen oder Introspektionen von Erlebnissen oder Emotionen.
Die von den Teilnehmern individuell angefertigten Introspektionsprotokolle werden von jedem Teilnehmer in der Gruppe vorgetragen. Diese Mitteilungen werden auf Tonband oder Video aufgezeichnet und verschriftet. Die anderen Gruppenmitglieder nehmen die Beiträge der Berichtenden nur rezeptiv auf - keine Diskussion.
In der Gruppe ist ein zweiter Durchgang möglich, wobei Ergänzungen der bisherigen Introspektionsberichte möglich sind.
Hier geht es um Erweiterungen meiner eigenen Introspektionen, indem ich in dem Bericht eines anderen Teilnehmers Erlebnisgehalte wiedererkenne, die ich nur flüchtig wahrgenommen habe oder die mir beim Schreiben entfallen sind oder die mir zu banal erschienen, daß ich sie nicht notiert hatte, mir irgendwie unsagbar waren, also mir sozial nicht akzeptabel oder mit meinem Selbstbild nicht vereinbar erschienen.
Es können auch Präzisierungen und/oder Differenzierungen meiner Wahrnehmungen sein, in dem ich aus den Mitteilungen anderer Teilnehmer zwar Teilbereiche (Komponenten) meiner eigenen Introspektionen wiedererkenne, die bei mir zwar ähnlich aber doch verschieden waren.
Darüber hinaus können die eigenen Introspektionen oder retrospektiven Erinnerungen auch abgegrenzt werden, indem ich sie als deutlich verschieden von denen der anderen erlebe. Diese Nichtübereinstimmung, Nichtkongruenz trägt sehr zur Abrundung des Bildes der eigenen Intro- bzw. Retrospektionen bei, indem sie die Grenzen von denen der anderen Teilnehmer deutlich absteckt.
Außerhalb der Gruppe werden die verschrifteten Video- und Tonbandaufnahmen der Datenrepräsentationsphase (Punkt 4 und 5) abschließend von einem oder mehreren TeilnehmerInnen individuell analysiert.
Die jeweiligen Experimente können mit anderen TeilnehmerInnen möglichst aus verschiedenen sozialen Zusammenhängen zwecks Variation der Introspektionsdaten und Ausdehnung der Reichweite wiederholt werden.