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Methodische Einwände und Kritik an Introspektionsverfahren

Thomas Burkart

Introspektion ist nicht erst seit dem Behaviorismus, sondern bereits ab Ende des 18. Jahrhunderts der Kritik ausgesetzt. Die Hauptkritik an der Methode wird im folgenden skizziert und kritsch kommentiert.

1. Gleichzeitige Selbstbeobachtung ist nicht möglich – das Spaltungsargument

Diese Fundamentalkritik wurde von A. Comte (1830) formuliert. Die gleichzeitige Selbstbeobachtung des Denkens sei nicht möglich, weil sie eine Spaltung des Bewußtseins in einen erlebenden und einen beobachtenden Teil voraussetze.

Folge dieser Kritik war, daß Introspektion von Wundt für komplexe psychische Phänomene wie Denken abgelehnt wurde (vgl. Bühler-Wundt-Kontroverse) und daß andere Introspektionspsychologen wie W. James (1890) nur retrospektiv gearbeitet haben (vgl. Lyons 1986, 6ff.).

Kritisch läßt sich zur Kritik Comtes einwenden, daß eine Variante der gleichzeitigen Selbstbeobachtung – die Methode des gleichzeitigen lauten Denkens, bei der das Denken im Vollzug laut verbalisiert wird – sehr wohl bei vielen komplexen psychischen Gegenständen einsetzbar ist und in der kognitiven Psychologie als eine der Hauptmethoden zur Untersuchung des Denkens genutzt wird (vgl. Ericsson & Simon 1980; Deffner 1984; Kluwe 1988).

Auch wenn Comtes Auffassung für aufmerksamkeitsintensive Denkprozesse zutreffen könnte, die zwar mit der wenig Aufmerksamkeit beanspruchenden Methode des lauten Denkens zugänglich sind, möglicherweise jedoch nicht mit anderen introspektiven Techniken, die mehr Aufmerksamkeit erfordern, können solche Prozesse dennoch kurz nach ihrem Vollzug retrospektiv erfaßt werden. Denkprozesse sind unmittelbar nach Beendigung von kürzeren Denkaufgaben oft noch gut erinnerbar. Bei umfangreichen, länger dauernden Denkaufgaben kann außerdem mit der Methode der fraktionierten Selbstbeobachtung gearbeitet werden, die einen Wechsel zwischen Denk- und Retrospektionsphasen beinhaltet.

2. Introspektion verändert oder stört das Erleben – die Reaktivität der Methode

Kant (1786) war der Auffassung, daß die Selbstbeobachtung von erinnerten Gefühlen zu deren Abschwächung führe (vgl. Traxel 1964, 48). Brentano (1874) hat die Kritik Kants präzisiert: "Innere Beobachtung" mit voller Aufmerksamkeit sei nicht möglich, ohne den Gegenstand zu verändern. Gleichzeitige Selbstbeobachtung könne nur nebenbei als "innere Wahrnehmung" erfolgen, während die Hauptaufmerksamkeit durch das Erleben gebunden sei.

Kritisch läßt sich einwenden, daß Reaktivität ein allgemeines Methodenproblem ist, das auch bei der Fremdbeobachtung gegeben ist, ohne die Methode als Ganzes zu diskreditieren. Ferner verändern sich psychische Phänomene wie Fühlen und Denken durch Selbstbeobachtung nicht zwangsläufig, wie aus methodenkritischen Untersuchungen zum lauten Denken bekannt ist (vgl. Ericsson & Simon 1980; Deffner 1984). Psychische Phänomene sind außerdem retrospektiv zugänglich. Darüber hinaus können reaktive Einflüsse über Variationen der Technik – etwa Selbstbeobachtung während des Vollzugs innerer Prozesse und danach per Retrospektion – analysierbar sein.

3. Mangelnde Reliabilität

Der Introspektion wird beginnend mit A. Comte eine unzureichende Reliabilität zugeschrieben, weil sie anfällig für Beobachtungsfehler sei, welche außerdem schlechter als bei der Fremdbeobachtung kontrollierbar seien. Als Gründe für die mangelnde Reliabilität werden Einstellungen/Erwartungen angeführt, die Selbstbeobachtungen verändern können. Ferner kann es eine unbewußte Verzerrung insbesondere bei selbstwertrelevanten Selbstbeobachtungen geben. Außerdem besteht die Gefahr einer Vermengung von Selbstbeobachtung und Deutung und es können Schwierigkeiten bei der Versprachlichung von Selbstbeobachtungen auftreten (vgl. Traxel 1964, 51ff.).

Folge der Kritik in der Introspektionspsychologie war der Versuch einer Reliabilitätsteigerung über eine strikte Kontrolle der experimentellen Bedingungen mit einer Einschränkung des Introspektionsberichts auf festgelegte Variablen (wie z.B. Größe, Intensität) und einem Training der Selbstbeobachter (mit mehr als 10000 Vorversuchen) in Wundts Laboratorium (vgl. Boring 1953, 172; Lyons 1986, 4f.), ferner dem Einsatz von selektierten Selbstbeobachtern (hoch gebildeten Experten) oder detaillierten Introspektionsregeln bei Titchener (vgl. Lyons 1986, 19f.) – Versuche, die z.T. zu einer Reduzierung und Trivialisierung der untersuchbaren Gegenstände führten (vgl. Lyons 1986, S.19).

Kritisch läßt sich anmerken, daß auch bei anderen Methoden notwendigerweise Probleme der Subjektivität auftreten, die nicht vollständig durch experimentelle Kontrolle auszuschließen sind. Bei heuristisch angelegter Forschung (Kleining 1995) sind aber folgende Strategien zur Herstellung von Intersubjektivität im Forschungsprozeß möglich: Die systematische und variierte Dokumentation von Selbstbeobachtungen (z.B. schriftlich, mündlich), die strikte zeitliche Trennung von Selbstbeobachtung und Analyse, wobei die Analyse nur mit dokumentierten und damit auch für andere zugänglichen Selbstbeobachtungen durchgeführt wird, sowie – insbesondere – die maximal strukturelle Variation (z.B. des Zeitabstands zum Erleben und der Methode selbst, indem etwa Selbst- mit Fremdbeobachtung kombiniert wird) und die Analyse der Daten auf Gemeinsamkeit.

4. Fehlende inter- und intrasubjektive Nachprüfbarkeit

Die fehlende intersubjektive Nachprüfbarkeit ist die behavioristische Kritik. Der Gegenstand kann nicht wie bei der Fremdbeobachtung von anderer Beobachtern wahrgenommen werden, weshalb Watson die Introspektion als unwissenschaftlich abgelehnt hat (vgl. Lyons 1986, 24). Folge der behavioristischen Kritik war das Verschwinden von Introspektion bis auf Rudimente (wie Selbstbeobachtung in psychophysischen Experimenten, vgl. Boring 1953, 180). Nach der kognitiven Wende wurde nur die Methode des lauten Denkens wieder aufgegriffen.

Eine fehlende intrasubjektive Nachprüfbarkeit sei deshalb gegeben, weil jedes Erleben, jeder psychische Akt letztlich einzigartig sei. Wegen dieser Singularität könne ein Selbstbeobachter nicht beurteilen, ob zwei Erlebnisse identisch seien, weshalb eine Überprüfung durch Beobachtungswiederholung nicht möglich sei (vgl. Traxel, 1964, S. 55).

Kritisch läßt sich zur behavioristischen Kritik fragen, ob Intersubjektivität nicht doch gefördert werden kann, indem verschiedene Selbstbeobachter ähnliche (innere) Gegenstände bzw. ihr Erleben bei identischen (äußeren) Reizen/Ereignissen beobachten. Ferner kann versucht werden, introspektive Befunde mit anderen "öffentlichen" Daten über denselben Gegenstand, die aber mit anderen Methoden, wie z.B. Fremdbeobachtung, gewonnen wurden, abzusichern, was beispielsweise bei Forschungen zu Vorstellungsbildern möglich war (vgl. Aebli 1981, 298f.).

Die These der fehlenden intrasubjektiven Nachprüfbarkeit läßt sich kritisieren, weil Singularität streng genommen nicht nur für Selbst-, sondern auch für Fremdbeobachtungen gilt und die Identität von Beobachtungen abstrahierend bestimmbar ist.

5. Begrenzter Einsatzbereich

Die Introspektion wurde kritisiert, weil viele Gegenstände ihr nicht zugänglich seien. So seien weder unbewußte Vorgänge, schnelle Wahrnehmungs- und andere automatisierte Prozesse noch das Erleben im Schlaf und das von Kindern introspektiv erfaßbar.

Kritisch läßt sich einwenden, daß auch andere Forschungsmethoden Grenzen haben und einige der für die Introspektion angeführten Grenzen nicht zutreffen. So ist Unbewußtes mit der Psychoanalyse erfaßbar, deren Techniken introspektiven Charakter haben (z.B. korrespondiert die freie Assoziation mit lautem Denken). Kinder sind ab ca. dem 8. Lebensjahr zur Introspektion in der Lage (vgl. Lyons 1986, 97). Sogar Träume werden mit der introspektiven Technik des "lucide dreaming" – einem trainierbaren Bewußtseinszustand, in dem man träumt und weiß, daß man träumt – analysiert (vgl. LaBerge 1997).

Literatur

Aebli, Hans (1981): Denken: das Ordnen des Tuns. Bd. II: Denkprozesse. Stuttgart: Klett-Cotta

Boring, Edwin G. (1953): A history of introspection. Psychological Bulletin 50, 169–189

Brentano, Franz (1874): Psychologie vom empirischen Standpunkte. Leipzig: Duncker & Humblot.

Comte, Auguste (1830): Cours de philosophie positive. Bd. 1. Paris: Bachelier

Deffner, Gerhard (1984): Lautes Denken – Untersuchung zur Qualität eines Datenerhebungsverfahrens. Frankfurt a.M: Peter Lang

Ericsson, K. Anders & Simon, Herbert A. (1980): Verbal reports as data. Psychological Review 87, 215–251

James, William (1890): Principles of psychology. New York: Holt

Kant, Immanuel (1786): Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hamburg (1997): Meiner

Kleining, Gerhard (1995): Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung. Bd 1. Weinheim: Psychologie Verlags Union

Kluwe, Rainer H. (1988): Methoden der Psychologie zur Gewinnung von Daten über menschliches Wissen. In: Mandl H. & Spada, H. (Hg.): Wissenspsychologie, 359–385. München, Weinheim: Psychologie Verlags Union

LaBerge, Stephen (1997): Exploring the world of lucid dreaming. New York: Random House

Lyons, William (1986): The disappearance of introspection. Cambridge (Mass.): MIT Press

Traxel, Werner (1964): Einführung in die Methodik der Psychologie. Bern, Stuttgart: Hans Huber

 

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