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Methode der dialogischen gruppengestützten Introspektion

Peter M. Mayer


Die Methode der dialogischen gruppengestützten Introspektion unterstützt individuelle Intro-spektionen mit Berichten in der Gruppe. In einer bestimmten Phase einer Untersuchung oder bei speziellen Forschungsfragen soll der individuumsbezogene Datengewinn durch den Einsatz einer Gruppe in seiner Qualität (Genauigkeit, Reliabilität, Validität, Umfang, Tiefe und Differenzierung) verbessert werden. Im folgenden wird der technische Ablauf eines solchen Gruppenexperimentes dargelegt.
Es handelt sich hier um Experimente, in denen mehrere Personen gleichzeitig teilnehmen, bei denen aber jede Person für sich dasselbe Ereignis (das experimentelle Ereignis) erlebt. Nach der Präsentation des Forschungsgegenstandes und der Exposition der Gruppenteilnehmer der experimentellen Situation, geschieht die Datenentstehung als mehr oder weniger bewußtes in-dividuelles Erleben im Kopf der teilnehmenden Person, welches von ihr individuell introspek-tiert, also durch Selbstbeobachtung registriert und möglichst simultan durch Verschriftung oder andere Medien und Ausdrucksformen (wie z.B. Zeichnungen, Tonarbeiten u.a.) protokolliert wird.
In der nachfolgenden Datenpräsentation, in der jeder Teilnehmer seine protokollierten Introspektionsdaten verliest, tritt dann die Gruppe in Aktion, um den individuellen Datenge-winn zu unterstützen.
Es handelt sich hierbei nicht um Gruppenexperimente im "traditionell" gruppendynamischen Sinne, in denen eine Gruppe agiert und dann die Beziehungs-Dynamik der Gruppenmitglieder untereinander und die Dynamik der Gruppe als solche untersucht werden soll, sondern um eine experimentelle Anordnung, in der die Gruppe als Instrument der Datengewinnung eingesetzt wird, indem die protokollierten individuellen Introspektionen durch die Introspektionen der an-deren Teilnehmer ergänzt, kontrastiert und differenziert werden..
Die Gruppengröße beträgt ca. 5 - 9 Personen.
Für ein introspektives Gruppenexperiment eignen sich alle Forschungsgegenstände, die der Introspektion zugänglich sind, also die sich auf menschliche Wahrnehmung, Denken, Fühlen, Erleben, Problemlösen, auf mentale "Gegenstände" und Sachverhalte im allgemeinen beziehen.
Bislang sind im Rahmen der Hamburger Forschungswerkstatt insgesamt 14 qualitative Intro-spektionsexperimente (Kleining & Witt, 2000), zwei über einen plötzlichen Alarm, zwei über Ferseh-Kommunikation, zwei über die Rezeption von künstlerischen Filmen, mehrere über verschiedene Emotionen, augenblicklich erlebte und retrospektiv erinnerte, ein Problemlö-sungs-Experiment und mehrere über freie Assoziationen ausgeführt worden.

Der Ablauf

1. Information aller Beteiligten

Der Versuchsleiter informiert die Beteiligten über den Forschungsgegenstand und über den Ab-lauf des Experimentes.

2. Untersuchungsgegenstand wird benannt

oder alle Beteiligten werden bei Experimenten einem (ein und demselben) Erlebnis ausgesetzt - Die Expositionsphase:
Der Untersuchungsgegenstand kann ein überraschender Schreckreiz, z.B. durch ein plötzliches Klingeln eines versteckten Weckers, das "klassische" Weckerexperiment, eine Mediendarbie-tung (Film, Video, Fernsehvorführung), eine experimentelle Problemlösungssituation: das Schlüsselexperiment, sein. Dieser experimentellen Situation wird die Gruppe als Ganzes aus-gesetzt. Bei bestimmten experimentellen Settings, z.B. das Schlüsselexperiment als Beispiel einer experimentellen Problemlösungssituation, kann das Experiment in seinem Ablauf mit Tonband oder besser mit Video aufgezeichnet werden.
Die Teilnehmer werden während der experimentellen Darbietung zur Introspektion und zur möglichst zeitnahen Dokumentation ihrer Introspektion aufgefordert, die Instruktion könnte folgendermaßen lauten: "Bitte notieren Sie alles, was Ihnen während der Darbietung und kurz danach durch den Kopf geht, was sie wahrgenommen, gedacht und gefühlt haben".
Die experimentelle Situation kann aber auch aus einer "Hausaufgabe" für alle Teilnehmer be-stehen:
Die Teilnehmer werden zum Beispiel dazu aufgefordert, die ersten fünf Minuten ein und der-selben Tagesschausendung zu introspektieren (und zu protokollieren). Sie kann aber auch, dar-aus bestehen, daß die Teilnehmer aufgefordert werden, bestimmte für sie wichtige vergangene Situationen retrospektiv zu introspektieren oder Gefühle, wie zum Beispiel Ärger.

3. Individuelle Introspektion - 5 bis etwa 15 Minuten

Eigenes Erleben während der individuellen Introspektionsphase soll verschriftet oder möglichst zeitnah zu dem Erlebnis auch anders (z.B. mit Zeichnungen u.a.) dokumentiert werden - das kann individuell, also muß auch nicht in der Gruppe gemacht werden. Das gilt zum Beispiel bei den oben genannten "Hausaufgaben", wie z.B. bei Retrospektionen von Ereignissen oder Introspektionen von Erlebnissen oder Emotionen.

4. In der Gruppe reihum berichten

Die von den Teilnehmern individuell angefertigten Introspektionsprotokolle werden von jedem Teilnehmer in der Gruppe vorgetragen. Diese Mitteilungen werden auf Tonband oder Video aufgezeichnet und verschriftet.
Die anderen Gruppenmitglieder nehmen die Beiträge der Berichtenden nur rezeptiv auf - keine Diskussion.

5. Zweiter Durchgang

In der Gruppe ist ein zweiter Durchgang möglich, wobei Ergänzungen der bisherigen Intro-spektionsberichte möglich sind.
Hier geht es um Erweiterungen meiner eigenen Introspektionen, indem ich in dem Bericht ei-nes anderen Teilnehmers Erlebnisgehalte wiedererkenne, die ich nur flüchtig wahrgenommen habe oder die mir beim Schreiben entfallen sind oder die mir zu banal erschienen, daß ich sie nicht notiert hatte, mir irgendwie unsagbar waren, also mir sozial nicht akzeptabel oder mit meinem Selbstbild nicht vereinbar erschienen.
Es können auch Präzisierungen und/oder Differenzierungen meiner Wahrnehmungen sein, in dem ich aus den Mitteilungen anderer Teilnehmer zwar Teilbereiche (Komponenten) meiner eigenen Introspektionen wiedererkenne, die bei mir zwar ähnlich aber doch verschieden waren.
Darüber hinaus können die eigenen Introspektionen oder retrospektiven Erinnerungen auch ab-gegrenzt werden, indem ich sie als deutlich verschieden von denen der anderen erlebe. Diese Nichtübereinstimmung, Nichtkongruenz trägt sehr zur Abrundung des Bildes der eigenen Intro- bzw. Retrospektionen bei, indem sie die Grenzen von denen der anderen Teilnehmer deutlich absteckt.

6. Analysephase

Außerhalb der Gruppe werden die verschrifteten Video- und Tonbandaufnahmen der Datenrep-räsentationsphase (Punkt 4 und 5) abschließend von einem oder mehreren TeilnehmerInnen individuell analysiert.

7. Variation des Introspektionsversuches

Die jeweiligen Experimente können mit anderen TeilnehmerInnen möglichst aus verschiedenen sozialen Zusammenhängen zwecks Variation der Introspektionsdaten und Ausdehnung der Reichweite wiederholt werden.

 

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