Vorschlag zur Neubestimmung: Dialogische Introspektion Gerhard Kleining Die Hamburger Gruppe Psychologie/Soziologie hat im Verlauf der Tagung den Begriff "Dialogische Introspektion" vorgeschlagen. Wir erläutern, was wir darunter verstehen. Introspektion ist ein Alltagsverfahren Sich selbst wahrzunehmen und zu beobachten ist Teil der Lebenserfahrung. Wir fühlen, denken, erleben, wollen; aber auch: wir können uns reflektierend innewerden als Fühlende, Denkende, Erlebende, Wollende. In vielfacher Gestalt, aber selten unter diesem Namen, wird Introspektion auch in der wissenschaftlichen Forschung verwandt. Sie ist präsent, nicht aber als Methode ausgewiesen. Dialogische Introspektion ist die Verwissenschaftlichung des Verfahrens Sie gibt an, welche Ziele Introspektion anstrebt, welche Regeln sie anwendet und warum. Wie andere täglich gebrauchte Handlungsformen - beobachten, experimentieren, sprechen, lesen - die zu Beobachtung, Experiment, Befragung, Text- und Bildanalyse etc. entwickelt wurden, kann Introspektion zu einer regelgeleiteten, reflektiert eingesetzten, den wissenschaftlichen Kriterien genügenden und wissenschaftlich akzeptablen Methode werden. Introspektion soll entdecken Wie andere Forschungsverfahren sehen wir Introspektion als Mittel zur Erkenntnis durch Forschung, also empirisch. Dialogische Introspektion ist methodologisch begründeten Regeln unterworfen, denen alle entdeckend eingesetzten Forschungsverfahren unterliegen: Offenheit des gegenstandes, Offenheit der Forschungsperson, maximale strukturelle Variation der Perspektiven, Analyse auf Gemeinsamkeiten, das Dialogverfahren (Kleining 1994, 1995). Offenheit als Grundlage Die Forschungsperson soll bemüht sein, die Zustände, Signale, Informationen, Bewegungen etc. wahrzunehmen und zu akzeptieren, die die eigene Psyche mitteilt. Sie soll bereit sein, den Veränderungen des Forschungsgegenstandes zu folgen, die sich im Verlauf des Introspektionsprozesses ergeben mögen. Auch die Methode selbst soll offen sein - so wird Introspektion etwa zusammen mit "Retrospektion" behandelt und erforscht. Eine gewisse Schulung zur Sensibilisierung der Wahrnehmung und Akzeptanz der introspektiven Inhalte, mit denen bei naiver Introspektion funktionsabhängig umgegangen wird, unter dem Primat der Erkenntnisgewinnung ist sinnvoll, wie auch Erfahrung mit der eigenen Psyche und ihren Äußerungsformen. Variation der Forschungsbedingungen und der Methoden Die einmalige Introspektion muss ergänzt werden durch Introspektion in anderer Umgebung, mit anderen Personen, zu anderer Zeit, mit anderen Verfahren erzeugt und aufgenommen und auf verschiedene andere Weise variiert, den Foschungsgegenständen und den Umständen angemesen. Z.B. haben wir - Thema Gefühle - zum einen Gefühle experimentell erzeugt (Erschrecken) und zum anderen Gefühle im Alltag beobachtet (Ärger), im ersten Fall im Labor, im zweiten in alltäglicher Umgebung. außerdem wurden Erlebnisse möglichst spontan, sowie nach kürzerer und längerer Zeit registriert. Introspektion wird durch Berichte in Gruppen optimiert Die Hamburger Foschungswerkstatt hat mit einem methodisch gesteuerten Einsatz von Gruppen, in die individuelle Daten und Erlebnisse eingebracht werden, sehr gute Erfolge erzielt. Die eigene Fähigkeit und Bereitschaft, sich an Erlebtes zu erinnern, wird deutlich verbessert, wenn man introspektive Berichte anderer zum gleichen Thema hört. Die gruppendynamischen Prozesse sollten minimiert werden, eine Bewertung der Mitteilungen sollte vermieden werden. Berichte in der Gruppe variieren außerdem die zunächst private Darstellungsform. Die Kombination von Einzelnen und Gruppen schließt an die Erfahrungen an, die andernorts mit Gruppen gemacht wurden. Dialogisch heißt die Abfolge von aktiven und rezeptiven Verfahren Wir nehmen uns wahr, beobachten uns gezielt und nehmen uns dabei wieder wahr in einem möglicherweise veränderten Zustand. Nach der heuristischen Methode versuchen wir, die vornehmlich rezeptiven und die vornehmlich aktiven Phasen - kurzfristig oder über längere Zeiträume - in eine Abfolge zu bringen wie Frage und Antwort und erneute Frage unter Kenntnis der Antwort und erneute Antwort usw. Das Erkenntnispotential des Dialogs - von den Platonischen Dialogen bis zur explorativen Befragung und dem therapeutischen Gespräch vielfach belegt, wird auf die eigene Psyche angewandt. Mit dem Alltagsverfahren des Selbstgesprächs hat das dialogische Verfahren nur die Abfolge gemeinsam, die Verwissenschaftlichung erfolgt durch die Dokumentation, die ein Voranschreiten der Erkenntnis fördert und das Zurückfallen in Zirkelschlüsse hindert. Die Daten müssen dokumentiert werden Jede Form von Verfestigung innerer Vorfälle und Vorgänge - durch Mimik und Gestik, durch Sprache, Schrift, Bild, Ton etc. - reduziert den Charakter des Erlebens und formt neue Gestalten. Die Transformierung gewinnt aber Mitteilbarkeit und Dauer und ist deswegen unverzichtbar. Variation der Dokumentations-Zeiten und -Orte und der Dokumentationsmethoden ermöglicht Blicke und Zugänge zum eigentlich nicht reproduzierbaren Psychischen aus verschiedenen Perspektiven. Die Analyse sucht die Gemeinsamkeiten Sind Daten dokumentiert, etwa verbalisiert oder verschriftet, können sie den Analysemethoden unterzogen werden, die Forschende bevorzugen. Im heuristischen Vorgehen ist die Analyse auf Gemeinsamkeiten vorgegeben, die mit der Erhebungsphase der maximalen strukturellen Variation oder der Erzeugung maximal verschiedener Daten korrespondiert und die Mannigfaltigkeit auf die Einheit zurückführt. Die Ergebnisse sind zu prüfen auf Validität, Reliabilität und Reichweite. Jede Methode hat ihre Spezifika Vor- und Nachteile des Introspektionsverfahrens sind nicht anders zu bewerten als die jeder anderen Methode. Keine ist universell aber keine ist prinzipiell verzichtbar. Würde die Beobachtung aus der psychologischen oder sozialwissenschaftlichen Forschung verbannt, oder das Experiment oder die Befragungsmethoden etc., so wäre die Erkenntnis blind für verschiedene Bereiche der Wirklichkeit. Wird die Introspektion aus dem Methodenkanon entfernt, ist sie blind für andere. Die heuristische Methodologie berücksichtigt die Begrenzung jedes Verfahrens, indem sie Variation fordert und Analyse auf Gemeinsamkeiten, also nur das akzeptiert, was in der Vielfalt Gleiches oder übereinstimmendes Muster ist, das dann offenbar den verschiedenen in den jeweiligen Datenformen repräsentierten Erscheinungsweisen zugrunde liegt. Introspektion ist für empirische Psychologie und Sozialforschung wichtig Introspektion scheint der Psychologie (oder als "Reflexion" der Philosophie) zuzugehören und wurde bisher auch so gesehen, weil ihre "Gegenstände" psychische Verhältnisse und Veränderungen sind. Da aber das Soziale (und auch das Ökonomische) nicht ohne das Individuum und sein Bewußtsein existieren, sogar, wie neuere Philosophien meinen, ("radikal") konstruiert werde, oder vielleicht auch umgekehrt der Mensch das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, erweist sich die Psyche - nicht nur das Bewußtsein - als Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft und als Ort, von dessen Studium alle Gesellschaftswissenschaften im weitesten Sinne profitieren können. "Introspektion" oder "Selbstbeobachtung"? Obgleich die klassische deutschsprachige Psychologie von den Begriffen "Selbstbeobachtung", " innere Wahrnehmung" oder "innere Beobachtung" ausgeht, hat sich in der internationalen Literatur das englisch/amerikanische Äquivalent "introspection" durchgesetzt. "Introspektion" verweist insbesondere auf die behavioristische Kritik, die bis heute eine Weiterführung der Methodenentwicklung verhindert hat. Wir halten sie, sofern sie das Verfahren insgesamt betrifft, für ungerechtfertigt und schädlich und meinen, dass die Methode in neuer Gestalt revitalisiert werden kann. Dies spricht für den Begriff "Introspektion". Die lateinische Bezeichnung legt zudem mehr die Ganzheit einer Innenschau nahe als "Selbstbeobachtung", die eher Eingrenzung und Veräußerlichung mitteilt (zwischen "Selbst" und "Fremd", "Beobachtung" und "Experiment"). Sie eignet sich besser zur Verbindung mit "Dialog", auch einem ganzheitlichen, Verbindung schaffenden Begriff. Literatur Kleining, Gerhard, (1994): Qualitativ-heuristische Sozialforschung. Schriften zur Theorie und Praxis. Hamburg: Fechner; Zweite Auflage 1995. Kleining, Gerhard, (1995): Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung. Band I. Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.
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